Das Tanzstück von Schüler:innen der Nehring-Grundschule dreht sich rund um Fragen des Selbst, der Gruppe und des gemeinsamen Gestaltens eines Miteinander. Wie gehen wir mit uns und anderen um? Und wie können wir auch bei Auseinandersetzungen zusammenfinden? Die ständigen Bewegungen und Schwankungen im Gruppengefüge werden tanzend ausgehandelt.
Was passiert mit dem Ich, wenn es Teil einer Gruppe ist? Ist es schön, so zu sein wie kein anderer? Verliert sich das Ich im Wir oder tut das Wir dem Ich gut? Ist es schön, so zu sein wie kein anderer? Möchten wir sein wie alle? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Suchen wir eher das Aufgehen in einer Gemeinschaft? Was kann eine Gemeinschaft tragen? Wo sind meine persönlichen Grenzen in einer Gemeinschaft?
Mit diesen Fragen hat sich eine zweite Klasse der Nehring-Grundschule im Rahmen des Projekts Streit_kultur in den vergangenen Monaten beschäftigt. An einem bemerkenswert verregneten Dienstag komme ich in die Aula der Schule, um dort die erste Präsentation des Projektes für die Eltern zu sehen. Auf der Bühne stehen aufgereiht Stühle, sodass der gesamte Raum der Aula frei ist für die tanzenden Kinder. Doch bevor die Aufführung beginnt, werden erst einmal alle gebeten, zu einem gemeinsamen Rhythmus Spiel aufzustehen. Danach werden Augenbinden an die 22 Schüler:innen der Klasse verteilt und die Eltern beginnen, die Kinder blind durch den Raum zu führen. Der Raum ist voll und wuselig und doch herrscht eine fröhliche, ruhige Stimmung. Um sich führen zu lassen braucht es viel Vertrauen und um zu führen Konzentration.
Schließlich verstummt die Musik und das Publikum setzt sich, damit das Tanzstück beginnen kann. Im Folgenden lässt sich ein bewegtes Spiel aus Vereinzelung und Gemeinschaft erkennen. Die Kinder bilden Formationen, Linien, Knoten. Mal sind sie vereinzelt auf der Bühne, mal alle gemeinsam. Ein Mädchen kauert sich auf dem Boden zusammen, plötzlich gesellt sich die ganze Gruppe zu ihr. Einen Moment später laufen sie auseinander, das Mädchen wieder allein. Ein Reihe bildet sich, aus der immer wieder einzelne, mal rennend, hüpfend oder wirbelnd ausbrechen. Die Stärke von einzelnen Körpern auf der Bühne wird ebenso sichtbar, wie die Schönheit der choreografierten Gruppe. Niemand ist einsam und doch sind alle irgendwie allein. Sie sind eine Gruppe, die sich nie ganz einigen kann auf eine Bewegung, die probt, versucht, ausbricht, wabert und tanzt.
Die Künstlerin und Leiterin des Projektes An Boekman sagt hierzu: „Wir möchten mit dem Projekt erreichen, dass die Kinder Selbstwirksamkeit erfahren, um sich SELBST und dem GEGENÜBER mit Empathie zu begegnen.“ und berührt damit eine der wesentlichen Fragen der Beschäftigung mit dem Thema „Streitkultur“. Streiten kann man sich nicht allein, für einen Streit braucht es mindestens ein Gegenüber. Streit ist der permanente Aushandlungsprozess der wichtigen Frage: Wie wollen wir miteinander umgehen? Wer bin ich und wer bist du? Und auch wenn das Ich und das Du manchmal nicht übereinstimmen, so bilden sie im Streit doch auch immer ein gemeinsames Wir.
„Ursprünglich wollten wir das Thema Streit stärker thematisieren. Aber als wir die Kinder baten, selber über ihr Stückthema zu sprechen, war der Aspekt des zur Harmonie führenden Gemeinschaftsgefühls und der Wunsch nach Aufgehobensein in ihrem Selbstverständnis viel wesentlicher.“, sagt Boekman. Auch wenn das Projekt „Streitkultur“ dazu auffordert, sich mit dem Streit auseinanderzusetzen, so bietet das künstlerische Arbeiten die Möglichkeit, andere Wege der Auseinandersetzung zu erproben. Wo Streit im Alltag vielleicht viel präsenter ist, kann er im Projekt gerade dadurch behandelt werden, dass stattdessen Harmonie getanzt wird. „Es ist ein verregneter Dienstag in einer Berliner Grundschule und ich darf beobachten, wie 19 Kinder auf der Bühne versuchen, sich und ihre gemeinsame Welt neu zu gestalten.“ [Text von Emilia Schlosser
Schüler:innen: 2. Jahrgangs
Künstler:innen, Choreografie: An Boekmann, Daybee Dee
Pädagog:innen: Paul Mang, David Neuling, Nora Taumeyer
Kulturagent:in: Katharina Stahlhoven
Fotos: Antje Materna
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